EMIK

Christine Gehringer. "Helden-Mythos als Projektionsfläche. "Wallenberg" von Erkki-Sven Tüür am Badischen Staatstheater / Neue Programmlinie "Politische Oper"". – www.pamina-magazin.de, 10.07.2012

Helden-Mythos als Projektionsfläche
"Wallenberg" von Erkki-Sven Tüür am Badischen Staatstheater/ Neue Programmlinie "Politische Oper"

Von Christine Gehringer

Die Premiere war gleichzeitig der Auftakt zur Programmlinie "Politische Oper": Tobias Kratzer inszenierte "Wallenberg" - ein Werk des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür und des Textdichters Lutz Hübner, das bei der Uraufführung 2001 in Dortmund unter Kritikern einen zweifelhaften Eindruck hinterließ. Nun widmete sich das Badische Staatstheater Karlsruhe dem ungeklärten Schicksal des schwedischen Diplomaten, der in Ungarn 100 000 Juden vor dem Zugriff der Nazis rettete und dessen Geburtstag sich am 4. August zum 100. Mal jährt.


"Danke!" ruft jemand laut in den Saal, kaum dass die letzten Töne verklungen sind. Vielleicht ist es der Dank an das Haus, mit Erkki-Sven Tüürs "Wallenberg" einen starken politischen Stoff auf die Bühne gebracht zu haben. Vielleicht ist es auch der Dank an das Orchester und das Sänger-Ensemble, das die Musik (zwischen surrealen Traumsequenzen und grellen Überzeichnungen) ausdrucksstark und in seltener Klangschönheit auf die Bühne brachte.
Doch die Inszenierung von Tobias Kratzer zeigt auch: Diese Oper, die sich zwischen der historischen Figur Wallenberg und ihrem Helden-Mythos bewegt, die eine wirkliche Handlung ausspart und sich dem Bösen, dem Unsagbaren, mit den Stilmitteln der Satire und der Groteske nähert - diese dichte Oper ist keineswegs leicht umzusetzen.

In kurzen Bildern wird im ersten Teil die historische Figur umrissen: Der Diplomat Raoul Wallenberg, Spross einer schwedischen Bankiers- und Unternehmerfamilie, leitet auf Anfrage der Amerikanischen Botschaft im Jahr 1944 humanitäre Aktionen in Budapest, um die dortigen Juden vor der Deportation durch die Nazis zu bewahren. Er verteilt schwedische Schutzpässe, organisiert die Unterbringung in Schutzhäusern und rettet auf diese Weise das Leben von 100 000 Juden.
Nach Kriegsende - davon erzählt der zweite Teil der Oper - wird Wallenberg von den Russen verhaftet. Die Umstände sind ungeklärt; man verdächtigt ihn der Spionage, außerdem dient er als Faustpfand gegenüber den USA. Seine Spur verliert sich im Gefängnis. Genau hier beginnt der Mythos: Wallenberg wird mehr und mehr zu einer Projektionsfläche und als solche in frei erfundenen Geschichten vereinnahmt, in der Oper spaltet sich die Person in zwei Figuren: Der echte Wallenberg tritt in den Hintergrund, er verstummt, seine Identität löst sich unter den anderen Gulag-Häftlingen gewissermaßen auf. Stattdessen erscheint der selbstzufriedene "Wallenberg II" - eine laute und schrille Glorifizierung, die der Vermarktung eines Pop-Idols gleichkommt.
Auf dieser surrealen bewegt sich die Oper - und nicht etwa auf der Ebene einer dramatischen Erzählung, wie man sie beispielsweise vom Film "Schindlers Liste" kennt. Einzig Wallenberg und sein teuflischer Gegenspieler Adolf Eichmann haben Namen, alle anderen Personen sind Chiffren, Symbolfiguren.

Die Musik von Erkki-Sven Tüür, der auch Rockmusiker ist, rückt das Schlagwerk in den Mittelpunkt. Vor allem sind es das Glockenspiel und das Vibraphon, die als entscheidende Elemente auch die Eröffnungsszene tragen - ein drängender, anschwellender Ton, beklemmend und unwirklich zugleich. Solche Klänge kontrastieren mit düsteren Klangwogen oder mit pointierten Rhythmen, insbesondere bei der Darstellung der Nazis. Das wirkt wie eine Persiflage auf die Ordnung innerhalb eines Terror-Regimes, in dem der einzelne doch nur ein Rädchen im Getriebe ist.
Im satirisch überzeichneten Plauderton bewegt sich Adolf Eichmann, Wallenberg selbst hat empfindsame, lyrische Momente.

Diese Musik ist derart illustrativ, dass man sich fragt, wie die Oper szenisch eigentlich noch bebildert werden kann.
Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier schaffen zunächst ein düsteres Ambiente aus Aktenschränken und einem käfig-ähnlichen Bretterverschlag, wo man die Häftlinge wie Tiere (sie erhalten im Übrigen Kükenmasken) zusammenpfercht. Doch hier zeigt sich das Problem dieser Inszenierung: Sie kommt meist über eine bloße Darstellung nicht hinaus. Im Versuch, die Nazis mit ihren (durchaus komischen) Schweinsmasken ins Lächerliche zu ziehen, bewegt sich das Regieteam auf dem schmalen Grat zwischen Übertreibung und Plattheit - und agiert damit oft nicht besonders glücklich.
Das zeigt auch die Sichtweise auf die drei Diplomaten: Eigentlich sind sie nur Funktionsträger; sie beauftragen Wallenberg einerseits mit einer Mission, können aber andererseits auch als äußere Darstellung seiner inneren Zweifel angesehen werden. Es sind Frauenstimmen, und sie treten stets als Trio auf: Das erinnert stark an die drei Damen in Mozarts "Zauberflöte", und diese Parallele arbeitet auch Tobias Kratzer heraus. Doch damit werden aus den bloßen Funktionsträgern ganz reale, teils umgarnende Wesen, deren Weiblichkeit durch die Kostüme noch betont wird. Ausgestattet mit Kaninchen-Ohren wirken sie zudem in erster Linie komisch. Auf einer zweiten Ebene symbolisieren diese Kaninchen-Ohren die Ohnmacht der westeuropäischen Staaten, die vor der Nazi-Diktatur wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange stehen. Doch diese Querverbindung muss der Zuschauer erst einmal leisten, und hier drängt sich der Gedanke auf: Der Regisseur will womöglich zuviel. Man fragt sich deshalb, ob das nicht eine Schwäche der Oper ist, weil sie genau dazu verleitet.

Gute Ansätze hat hingegen der zweite Teil. Eine vergoldete Nachbildung des Budapester Wallenberg-Denkmals (ganz plakativ ringt hier ein Held eine Schlange nieder) ist für die Nachwelt im Museum zu bestaunen, und diese Kulisse wiederum eignet sich bestens für Ehrungen und Preisverleihungen: Der "Wallenberg-Zirkus" (inklusive des amerikanischen Präsidenten, der Wallenberg zum Ehrenbürger ernennt) hat einen Hauch von schriller, dekadenter Popwelt.
Im Hintergrund läuft eine Uhr, deren Zahl auf der Anzeigetafel sich sekündlich erhöht - möglicherweise, um den Eindruck angesichts der Menge der ermordeten Juden zu verstärken. Gleichzeitig ist dies auch ein Hinweis auf die Zeit, die davonläuft - ein Motiv, das sich übrigens durch die gesamte Oper zieht. Doch genau hier leistet sich Kratzer einen Missgriff: Denn exakt dieses Bild ist so ausschließlich mit dem Gedanken an die Schulden-Uhr besetzt, dass es seine Wirkung völlig verfehlt.

Restlos überzeugen hingegen Johannes Willig und die Badische Staatskapelle, die Erkki-Sven Tüürs kontrastreiche Bilder packend umsetzen. Dasselbe gilt für die Sänger: Tobias Schabel als Wallenberg und Renatus Meszar als Eichmann sind starke Charaktere, sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Ein hellwaches Trio geben Tiny Peters, Christina Bock und Sarah Alexandra Hudarew als drei Diplomaten. Daneben verleihen Ina Schlingensiepen ("die Frau"), Stefanie Schaefer, Max Friedrich Schäffer und Florian Kontschak den Juden, den Überlebenden, ein Gesicht; eindringlich auch Rebecca Raffell, die als mahnende (innere) Stimme auftritt.
Zu den eher verinnerlichten Szenen Wallenbergs, die im zweiten Teil mehr und mehr verstummen, übernimmt Matthias Wohlbrecht als penetrante Figur "Wallenberg zwei" den Gegenpart; ein Typus, der geradezu nach Glorifizierung schreit.
Einen ausgesprochen intensiven Moment hat zudem der Chor (Einstudierung: Ulrich Wagner) am Ende des ersten Teils mit dem Gesang "Und siehe, der Gebeine lagen sehr viel auf dem Feld", der zu den musikalisch zwingendsten Szenen der ganzen Oper gehört.
Einhelligen Jubel gab es für das gesamte Ensemble - im Übrigen auch für die Regie.
(Fotos: Jochen Klenk)

Nächste Aufführungen: 11. und 13. 07., 20 Uhr. Hinweis: Im Ständehaus (Ständehausstr.) ist derzeit eine Wallenberg-Ausstellung zu sehen; außerdem gibt es am Badischen Staatstheater Nachgespräche mit Wallenberg-Forschern bei allen Vorstellungen im Juli.

Tagasi